Die Suche nach dem Route 66 Killer – Leseprobe

Leseprobe aus dem Thriller „Die Suche nach dem Route 66 Killer“. Copyright 2023 by Christian Piskulla. Der komplette Roman verfügt über 488 Seiten. Die Leseprobe beinhaltet ca. 33 Seiten.

Arizona, in der Nähe der Route 66

Mit einem lauten Kreischen fraß sich die Baggerschaufel in den Untergrund. Das Geräusch war so laut, so eindringlich, dass sich sein Magen zusammenzog. Seine Nackenhaare stellten sich auf, panisch blickte er in die Grube: Wurde die Schaufel eventuell beschädigt?

„Scheiße, gottverdammte Scheiße!“ Sein Bruder würde ihn töten, zumindest jedoch verstümmeln, würde er den Bagger mal wieder demolieren. Hastig zog er den Steuerknüppel zurück, bewegte die Schaufel so nach oben. Dreck und Steine fielen heraus, roter Staub rieselte zu Boden. Als er erkannte, dass an der Schaufel noch alle Zähne vorhanden waren und auch die Hydraulik noch einwandfrei funktionierte, seufzte er erleichtert.

Er hatte nicht damit gerechnet, bereits in so geringer Tiefe auf Felsen zu stoßen. Das war schließlich nicht die erste Grube, die er hier draußen in der Wüste aushob. Normalerweise erreichte man das Grundgestein erst nach etwa anderthalb Metern. Das Loch jedoch war gerade einmal einen Meter tief. Egal. Für seine Zwecke war es ausreichend. Er drehte das Führerhaus zu Seite, sodass er aus der geöffneten Tür heraus sein Werk betrachten konnte.

Vor ihm lag die Grube, zwei Meter breit, drei Meter lang, einen Meter tief. Nach unten hin verjüngte sie sich etwas, wie bei einem Trichter. Die Seitenwände zierten hässliche Kratzspuren, verursacht von den Klauen der Schaufel. Dennoch hatte die Grube mit ihrer Symmetrie etwas Schönes, Anmutiges.

Links von der Grube lag der Aushub. Ein Berg aus Sand, Geröll und Steinen. Im roten Licht der untergehenden Abendsonne wirkte auch er irgendwie unwirklich schön, konkurrierte mit seiner runden, natürlichen Form mit den kantigen Rändern der Grube.

Rechts von dem Loch stand der Lkw. Fast 40 Jahre hatte der Wagen auf dem Buckel, sein Vater hatte ihn damals gekauft. Der Lack war größtenteils ab, die Wüstensonne, der Wind und der Sand hatten ihm zugesetzt. Auch die alte, rissige Plane, die die Ladefläche bedeckte, war von der Hitze gezeichnet.

Er drehte den Zündschlüssel herum, der laute Motor des Baggers verstummte. Totenstille – von einem Moment auf den anderen. Noch glaubte er, sein Blut in den Ohren rauschen zu hören, aber sonst war da nichts. Kein Wind, kein Insekt, weit und breit kein anderer Mensch außer ihm.

Die Wüste faszinierte ihn seit seiner frühesten Jugend. Als sein Vater mit ihm und seinen zwei Brüdern vor über 30 Jahren hier hinausgezogen war, weg aus dem lauten, dreckigen Chicago, liebte er sie sofort. Die Weite, die Einsamkeit, die Ruhe – die Atmosphäre der Wüste war einzigartig.

Besonders jetzt, in den letzten Minuten vor Sonnenuntergang, war die Stimmung berauschend. Eine riesige dunkelrote Sonnenscheibe versank am Horizont. Vertrocknete Büsche, Kakteen und Steine warfen lange, dunkle Schatten auf den Boden, die einen starken Kontrast zum hellgelben Sand bildeten. Dazu ein dunkelblauer Himmel, wolkenlos, nur gestört von einigen Kondensstreifen.

Er drehte sich, setzte sich seitlich auf den verschlissenen Sessel des Baggers. Aus der Brusttasche seiner völlig verdreckten Arbeitsjacke zog er ein Päckchen Zigaretten hervor, dazu ein Feuerzeug. Er zündete sich eine Zigarette an, inhalierte tief, genoss den Moment, in dem das Nikotin ihm ins Gehirn schoss.

Über die Grube hinweg blickte er in die untergehende Sonne. Noch fiel ihr Licht bis auf den Boden des Lochs. Doch während er rauchte und die Sonne weiter herabsank, veränderte sich das Licht in der Grube auf wundersame Weise.
Mit dem Absinken der Sonne erreichten ihre Strahlen nicht mehr den Boden der Grube. Der Winkel, in dem das Licht hineinfiel, verkleinerte sich mit jeder Sekunde. Es war, als würde sich die Grube langsam mit Dunkelheit füllen. Wie schwarzes giftiges Wasser, das langsam in ihr emporstieg, kroch die Nacht aus der Grube heraus. Fasziniert verfolgte er das Schauspiel, rauchte dabei.

Irgendwann erreichte die Glut der Zigarette seine Finger. Ein letzter Zug, er schnippte die Kippe von sich weg. In einem hohen Bogen flog sie davon, landete in der Mitte der Grube. Ein kurzes Funkeln, ein letztes Lebenszeichen.
Da, ein Schatten über ihm. Er sah ihn nur aus dem Augenwinkel, erschrocken blickte er ihm nach. Nichts. Eine Fledermaus, schoss es ihm durch den Kopf. Jetzt, mit Einbruch der Dunkelheit, verließen sie ihre Höhlen, suchten nach Beute in der sich abkühlenden Luft.

Auch er würde sich jetzt wieder an die Arbeit machen. Entschlossen rückte er sich auf dem Sitz des Baggers zurecht, startete den Motor. Wie ein Monster, das unverhofft aus dem Schlaf geweckt wird, brüllte die Maschine, spuckte wütend schwarzen Qualm.

Er drehte den Bagger in Richtung der Grube, schaltete die Scheinwerfer ein. Vier starke Lampen an der Oberseite der Fahrerkabine warfen ein grelles weißes Licht auf die Grube und den Lkw.
Mit einem Moment verlor die Szene ihre Unschuld. Der Sonnenuntergang, die Romantik der Wüste in der Abenddämmerung – alles wie weggefegt. Eine Beerdigung, jemand oder etwas wurde hier heimlich verscharrt, das war jetzt offensichtlich.

Kurz überlegte er, den Motor anzulassen, die Batterien so zu schonen. Doch den Lkw abzuladen würde nur Minuten dauern, und er wollte das nicht im Lärm des laufenden Motors erledigen. Es war zwar nahezu ausgeschlossen, dass ihn hier draußen jemand überraschen würde, doch sicher war sicher.

Langsam ging er hinüber zum Lkw, löste die Verriegelung der seitlichen Bordwand. Mit einem lauten Krachen klappte sie zur Seite und nach unten, gab den Blick auf die Ladefläche frei. Etwas Großes, Klobiges lag dort unter einer Plane verborgen.

Geschickt kletterte er auf die Ladefläche, zog die Plane ein Stück beiseite. Eine große Reisetasche aus Leder kam zum Vorschein, dunkelbraun, verschlossen durch zwei Schnallen aus funkelndem Messing.
Natürlich kannte er den Inhalt der Tasche. Teure Designerkleidung, ein iPad, ein iPhone. Beide Geräte hatte sein Bruder zerstört, mit einem Hammer zertrümmert. Alles musste verschwinden, auch die Kreditkarten, der Helm, die Sonnenbrille, alles. Lass dir nicht einfallen, irgendetwas mitzunehmen, hatte sein Bruder ihn eindringlich gewarnt. Mit Schwung warf er die Tasche in die Grube, wo sie mit einem dumpfen Geräusch landete.

Die Hände zu Fäusten geballt, blickte er auf die Plane. Zischend zog er Luft durch die schlechten, vom Rauchen vergilbten Zähne. Er zögert kurz, doch dann gab er sich einen Ruck und zerrte das schwere Tuch ein weiteres Stück beiseite.

Ein alter, dreckiger Bettbezug kam zum Vorschein. Darin steckte etwas Unförmiges, Blut sickerte durch den Stoff. Er konnte das Blut riechen, und die Leiche selbst begann bereits zu verwesen. Der penetrante, süßliche Gestank breitete sich sofort aus, ein Würgereiz ließ ihn die Luft anhalten.

Von dem jungen Mann war nicht viel übriggeblieben. Ausgeblutet und ohne Fleisch an Armen und Beinen wog die Leiche nur noch etwas über 40 Kilo. Dennoch wäre sie zu schwer für einen Plastiksack gewesen, daher hatten sie den Toten in den Bettbezug gesteckt.

Vorsichtig, um nur nicht mit dem Blut in Berührung zu kommen, zog er den Bezug an den Rand der Ladefläche. Hier hockte er sich hinter die Leiche, gab ihr mit dem rechten Fuß einen festen, energischen Stoß. Sein Plan ging auf. Sie stürzte auf die Kante der Grube herab, rutschte langsam in diese hinein.

Er überlegte, ob er so etwas wie ein Gebet sprechen sollte. Doch wozu? Es gab keinen Gott, und wenn doch, dann wäre es sein eigenes Seelenheil, für das er hätte beten müssen.

Bereits seit vier Stunden war er nun hier draußen, aber der schwerste und gefährlichste Teil seiner Arbeit lag noch vor ihm. Und erst jetzt registrierte er den Druck auf der Blase: Er musste dringend mal pissen. Kurz überlegte er, vom Laster herunterzusteigen, doch dann entschied er sich für die Grube.

Am Rand der Ladefläche stehend, entleerte er seine Blase. Im grellen Licht der Scheinwerfer glitzerte sein Urin – ein schöner, vollkommener Bogen zog sich von seinem Penis genau auf die am Boden der Grube liegende Leiche.
Beschwert durch seinen Urin legte sich der Stoff des Bettbezugs enger auf den darunter verborgenen Toten. Die Konturen des Kopfs wurden sichtbar, der Hals, eine Schulter. Die Leiche lag auf dem Rücken, sah quasi aus der Grube zu ihm hinauf. Plötzlich glaubte er, das Gesicht des Toten hinter dem Stoff zu erkennen.

„Shit, fuck off!“, entfuhr es ihm. Er stolperte zurück, bespritzte sich und die Ladefläche mit Urin. Angsterfüllt blickte er in das Loch, aber da war nichts außer einem blutigen Bettbezug. Seine Einbildung hatte ihm einen Streich gespielt. Doch er hatte genug, wollte nur noch weg von hier.

„Los jetzt, reiß dich zusammen“, murmelte er leise vor sich hin. Er fummelte hastig seinen Penis zurück in die Hose, wischte sich die Hände ab. Mit einem Ruck zog er die Plane ganz zurück, bis sie ihr letztes Geheimnis preisgab: ein Motorrad.

Da stand sie vor ihm, in ihrer ganzen Pracht: Eine Indian, Baujahr 1967. Vielleicht eines der schönsten Motorräder, die je gebaut wurden. Die riesigen, ausladenden Schutzbleche und der Tank waren in einem leuchtenden Goldgelb lackiert, Lenker, Auspuff, Scheinwerfer und andere Anbauteile glitzerten silbern. Über den vorderen Kotflügel erstreckte sich eine Schwinge, die zugleich die Federkrone eines Indianerhäuptlings war, dessen Profil grimmig in Fahrtrichtung blickte. Auf dem Tank der geschwungene Schriftzug aus Chrombuchstaben: Indian.

Der Zustand der Maschine war einzigartig, überragend. Wer immer das Motorrad restauriert hatte, er war ein Meister seines Fachs. Etliche Teile hatte man wohl neu anfertigen müssen, da sie so nicht mehr am Markt zu finden waren. Sein Bruder schätzte den Wert der Maschine auf mindestens 50.000 Dollar.

Während er das Motorrad betrachtete, erwachte ein fast schon körperlich spürbares Verlangen in ihm. Er wollte es besitzen, ganz allein für sich. Es jetzt hier draußen in der Wüste zu vergraben, es für immer zu vernichten – undenkbar. Doch was konnte er tun? Die Maschine in der Wüste verstecken, verborgen unter einer Plane? Sie irgendwann, vielleicht nach dem Tod seines Bruders, hervorholen? Nein.

Sein Bruder hatte ihn gewarnt: Dieses Motorrad und auch seine Teile waren so einzigartig wie ein Fingerabdruck. Wer immer es – oder Teile davon – besaß, der hatte auch etwas mit dem Verschwinden des Besitzers zu tun.
Er gab sich einen Ruck, schüttelte wütend den Kopf. Bring das jetzt zu Ende und dann nichts wie weg hier. Er setzte sich auf den hellbraunen Ledersattel, stützte sich mit beiden Unterarmen auf den breiten Lenker. Der Lkw stand leicht schräg, wie sollte er die fast 300 Kilo schwere Maschine in die Grube bewegen?
Mit Kraft trat er auf den Kickstarter, der Motor sprang sofort an. Der Sound des Zweizylinders, satt und laut, begeisterte ihn. Er legte den ersten Gang ein, schob den Seitenständer beiseite, ließ die Kupplung langsam kommen. Vorsichtig fuhr er die Maschine an den Rand der Ladefläche.

Hier stoppte er, stieg ab, ohne den Motor auszuschalten. Die Kupplung gezogen, hielt er die Maschine im Leerlauf. Etwas verkrampft stand er da, überlegt kurz, ob sein Plan funktionieren würde. Dann gab er Gas, ließ die Kupplung ruckartig kommen. Mit einem regelrechten Satz sprang die Indian von der Ladefläche, direkt in die Grube. Sie überschlug sich, fiel dabei zunächst auf den Tank, dann auf die Seite.

Als die 300 Kilo des Motorrads abrupt von der Ladefläche verschwanden, schwankte der Lkw zu seiner Überraschung plötzlich so heftig, dass auch er das Gleichgewicht verlor. Gefährlich nah am Rand der Ladefläche balancierend, ruderte er wild mit den Armen. Der Lkw schwankte noch immer, die alten Blattfedern ließen das Fahrzeug wie ein Schiff in der Brandung schaukeln.

All seinen Bemühungen zum Trotz verlor er das Gleichgewicht. Mit den Füßen voran fiel er in die Grube, direkt auf das Motorrad. Ein heftiger Schmerz durchzuckte seinen rechten Fuß, dann konnte er sich nicht mehr auf den Beinen halten und stürzte nach vorn. Bäuchlings kam er auf der Maschine zu liegen, sein Kopf schlug auf dem vorderen Schutzblech auf.

„Aargh!“ Sein eigener Schmerzensschrei gellte ihm in den Ohren. Panik erfüllte ihn, Tränen schossen ihm in die Augen. Sein Herz raste, doch schnell begriff er, dass ihm nichts Ernsthaftes geschehen war. Es waren eher der Schreck und die Angst, was sein Bruder wohl mit ihm anstellen würde, falls er bei dieser Sache hier versagte.
Zaghaft öffnete er die Augen, blinzelte. Direkt vor seinem Gesicht befand sich der Indianerkopf, die auf dem Schutzblech montierte Gallionsfigur der Indian. Wütend blickte sie ihm entgegen, fast schon böse.

In diesem Moment roch er die Leiche unter dem Motorrad. Alles, was sie dem Jungen angetan hatten, schoss ihm durch den Kopf. Diesen jungen Mann und sein Motorrad – man würde sie vermissen, nach ihnen suchen. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, dass der Indianerkopf ihm etwas mitteilen wollte: Ich werde ihnen bei der Suche helfen.
Hastig richtete er den Oberkörper auf, drehte sich zur Seite. Er stand auf, belastete vorsichtig sein Fußgelenk. Alles okay, nur eine leichte Verstauchung. Raus, nur raus aus diesem verdammten Grab. Das war alles, was er denken konnte.

Jetzt zahlte es sich aus, dass er das Loch nicht so tief wie geplant gegraben hatte. Er kletterte aus der Grube, warf einen Blick zurück. Noch immer sah es so aus, als ob der verdammte Häuptling ihm hinterhersehen würde. Unfug, Schwachsinn, Aberglaube.

Der Bagger hustete zweimal, dann sprang er an. Energisch und ohne Rücksicht auf das Material rammte er die Schaufel in den Abraum, kippte ihn in die Grube. Seine Hände zitterten dabei, sein Gesicht war angespannt, seine Muskeln verkrampft. Er arbeitete hastig, bemüht, das von ihm und seinen Brüdern angerichtete Verbrechen endgültig zu begraben.

Nachdem sich die Grube so weit gefüllt hatte, dass von dem Toten und seinem Motorrad nichts mehr zu sehen war, beruhigte er sich. Er würde dieses verdammte Scheißloch zuschütten, danach den Bagger zur Scheune zurückfahren. Anschließend würde er zurückhumpeln, den Laster holen.

Als er drei Stunden später mit geschlossenen Augen unter der Dusche stand, den Schweiß und Dreck von seinem Körper abspülte, kroch eine Erinnerung in ihm hoch: der Indianerkopf, der ihn anzustarren schien. Ich werde ihnen bei der Suche helfen.

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„Los Stetson, zeig’s mir. Loch ihn ein. Vorsichtig, ganz sanft. Mit Gefühl!“ Mark verzog missmutig das Gesicht. Er fühlte sich unwohl, wie immer, wenn Rebecca ihn unter Druck setzte. Unruhig wechselte er von einem Bein auf das andere, drückte nervös seinen Rücken durch.

Unter dem grellen Flutlicht Golf zu spielen, erwies sich als zusätzliche Belastung. Der Golfball warf einen Schatten nach links, einen nach rechts. Der Rasen wirkte seltsam künstlich und surreal, das Grün fast schon kitschig.

Nahezu senkrecht von oben blickte er auf den Ball hinab. Bis zum Loch waren es vielleicht viereinhalb Meter. Das Gelände hatte nur minimales Gefälle, nicht der Rede wert. Er würde es schaffen, den Ball einzulochen, da war er sich sicher.

Behutsam holte er aus, dachte daran, was Rebecca ihm beigebracht hatte. Nur nicht verkrampfen, atmen, mitschwingen. Das Eisen traf den Ball, doch kaum hatte der sich in Bewegung gesetzt, blaffte Rebecca hinter ihm: „Scheiße, was war das denn?“

Der Ball rollte knapp 15 Zentimeter am Loch vorbei und kam gut einen halben Meter dahinter zum Liegen. Während er noch darüber nachdachte, was er wohl falsch gemacht hatte, schob Rebecca ihn grob beiseite. Sie nahm seine Position ein, legte sich einen Ball zurecht. Ohne langes Zögern stellte sie sich über den Ball, blickte erst zum Loch, danach zurück zum Golfball. Fast schon zärtlich traf ihn ihr Eisen. Wie in Zeitlupe bewegte er sich auf das Loch zu, dabei eine leichte Kurve beschreibend. Unmöglich, dachte Mark.

In diesem Moment erinnerte er sich daran, wie ihn vor etlichen Jahren sein älterer Bruder gefoppt hatte. Sie waren noch Kinder, saßen zusammen am Küchentisch. Sein Bruder legte eine kleine Metallkugel auf den Tisch, blickte diese beschwörend an. Dann bedrohte er die Kugel mit dem ausgestreckten Zeigefinger und tatsächlich, sie bewegte sich von ihm weg. Später fand Mark heraus, dass sein Bruder zuvor einen Magneten unter dem Tisch versteckt und so die Kugel gelenkt hatte.

Ohne an Geschwindigkeit zu verlieren, rollte Rebeccas Ball auf das Loch zu. Hatte Mark anfangs noch geglaubt, die Kurve könnte ihn unmöglich an das Loch heranführen, sah er sich nun eines Besseren belehrt: Mit einem leisen Klack plumpste der Ball hinein.

Rebecca drehte sich zu ihm um, blickte ihn mit gespieltem Zorn an. „Schneckchen, warum denke ich, nein, bin ich überzeugt, dass du Golf gar nicht richtig beherrschen willst? Du stellst dich doch sonst nicht so dumm an.“
Mark warf ihr einen bösen Blick zu. Schneckchen. Diesen Kosenamen mochte er gar nicht, und Rebecca wusste das natürlich genau. Aber es war seine eigene Schuld, dass sie ihn damit ärgerte. Einst hatte er ihr auf dem Trail gestanden, dass es ihn bedrückte, wenn Rebecca ihn immer nur Buddy, Mark oder Stetson nannte. Sie gab sich damals total erstaunt: „Wie bitte, du wünschst dir einen Kosenamen? Ein erwachsener Mann, ein Militärpolizist, ein Kriegsveteran? Ich dachte, es wäre dir peinlich, wenn ich dich mit einem Kosenamen ansprechen würde. Aber gut, du sollst einen Kosenamen bekommen, einen, der zu dir passt.“

Natürlich wussten sie beide, welches „Schneckchen“ hier gemeint war. Als Rebecca ihn einmal im Beisein mehrerer Freundinnen so ansprach, wäre er vor Scham fast im Erdboden versunken. Er war sich sicher, dass die Frauen den genauen Hintergrund kannten, dass damit nämlich eine Technik des Cunnilingus gemeint war. Doch die Damen taten so, als wäre Schneckchen der normalste Kosename der Welt.

Rebecca steckte ihren Schläger in den Trolley zurück. Sie griff danach, ging weiter zum nächsten Abschlag. Mark folgte ihr schweigend. Sie waren jetzt seit fast zwei Jahren ein glückliches Paar. Direkt nach ihrer Aussprache in Tahoe hatte Mark seinen Job bei der Polizei in Bishop gekündigt, war zu ihr nach Sausalito gezogen. Ihr kleines – aber überaus feines – Haus bot ausreichend Platz für zwei.

Nach einigen stürmischen Wochen, die sie überwiegend im Bett verbrachten, vertrieben sie sich die Zeit mit Sport, Wandern, Reisen. Da sie beide über ein ausreichendes finanzielles Polster verfügten, brauchten sie sich um ihren Lebensunterhalt keine Sorgen zu machen. Ihr Leben war fast zu schön, um wahr zu sein.

Sport war ein wichtiger Bestandteil ihres Tagesablaufes. Rebecca war nahezu süchtig nach Bewegung, und in kaum einer Sportart, die sie gemeinsam betrieben, konnte Mark ihr das Wasser reichen. Oft beschlich ihn das Gefühl, dass sie sich absichtlich etwas zurücknahm, um ihn nicht noch mehr zu demütigen.

Am Abschlag angekommen, legte Rebecca sich wieder den Ball zurecht. Sie trug nur einen kurzen weißen Minirock, dazu weiße Golfschuhe ohne Socken. Ihre langen, vom letzten Urlaub noch braungebrannten Beine standen in starkem Kontrast zum strahlenden Weiß ihrer Kleidung, und ein hellblaues, enganliegendes Shirt ohne Ärmel brachte ihre straffen, durchtrainierten Arme sowie ihre Wespentaille zur Geltung. Ihr Markenzeichen, der dicke, kunstvoll geflochtene Zopf, hing ihr über die Schulter.

Als sie sich nach vorn beugte, um den Ball exakt auszurichten, kam Mark nicht umhin, ihr unter den Rock zu schauen. Rebecca wusste das natürlich, vermutlich hatte sie sich sogar absichtlich noch einmal so tief nach vorn gebeugt. Ruckartig blickte sie ihn über die Schulter hinweg an, ihr Augen funkelten dabei listig. „Du sollst mir gefälligst nicht auf den Hintern schauen. Sieh lieber zu, wie ich den Abschlag ausführe. Aufpassen, Stetson!“
Rebecca überlegte kurz, entschied sich dann für ein Sechser-Eisen. Sie positionierte sich, überprüfte kurz im Gedanken ihre Haltung, ihren Stand. Ausholbewegung, Körperdrehung und Abschwung gelangen ihr perfekt. Mit einem Knall traf das Eisen den Ball, der wie ein Geschoss davonflog.

Gemeinsam blickten sie dem Ball hinterher, der kurzzeitig in der Dunkelheit des Nachthimmels verschwand. Erst als er wieder auf dem Rasen aufkam, sein Weiß sich gegen das Grün abhob, erkannten sie seine genaue Position. Ein hervorragender Abschlag war Rebecca da gelungen.

Beiden war bewusst, dass Mark hier nicht mithalten konnte. Dazu fehlten ihm schlicht die Technik, die Erfahrung und die Übung. Doch er nahm sich vor, sich nicht schon wieder zu blamieren.

Auch er entschied sich für das Sechser-Eisen, legte sich den Ball zurecht. Unter Rebeccas strengem Blick stellte er sich vor den Ball, ließ im Kopf noch einmal Revue passieren, was er bisher über den richtigen Abschlag gelernt hatte. Er baute Körperspannung auf, atmete tief ein, holte zum Abschwung aus.

Doch es fehlte ihm an Konzentration, und so misslang ihm der Abschlag völlig. Ein faustgroßes Stück Rasen flog gut 20 Meter weit durch die Luft, bevor es mit einem deutlichen Plopp aufschlug. Der Ball selbst schaffte es keine zehn Meter weit, kullerte traurig über den Rasen. Einen Moment lang überlegte Mark, auch den Schläger hinterherzuwerfen, so weit wie nur irgend möglich. Doch er riss sich zusammen.

„Schneckchen, ich glaube der erste Mensch hätte das besser hinbekommen. Für heute machen wir Schluss, mir reicht’s. Lass uns duschen und dann was essen gehen.“ Rebecca überließ es ihm, den Trolley zum Clubhaus zurückzuziehen. Ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, ging sie voraus, strafte ihn mit Nichtbeachtung.

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Das alte Schnellrestaurant, drei Meilen entfernt von der Route 66, war von außen nicht mehr als solches erkennbar. Die Fenster hatte man bereits vor Jahrzehnten mit Brettern zugenagelt, das Grundstück sich selbst überlassen. Überall wucherte Unkraut, vertrocknete Büsche umgaben das verwitterte Holzhaus. Im Mondschein wirkte es gruselig, ein Ort, an dem man einen Horrorfilm hätte drehen können.

Eine Zeit lang hatte das verlassene Grundstück wohl als wilde Müllkippe gedient. Auf der Zufahrt und dem Parkplatz lagen Abfälle und Sperrmüll herum. Ausgediente Kühlschränke, durchgelegene, verdreckte Matratzen, defekte Fernseher, alle wahllos auf dem Grundstück verteilt, verstärkten den trostlosen Anblick noch.

Bereits kurz nach der Pleite hatten Jugendliche die riesige Leuchtreklame zerstört, indem sie die Neonröhren mit Steinen beworfen hatten. Das Schild zeigte einst einen Arbeiter, auf dem Kopf einen Helm, wie er sich grinsend über einen Hamburger hermachte. Es hatte weithin sichtbar verkündet, dass hier Bob’s Burger Heaven hungrige Reisende mit Nahrung und Getränken versorgte. Nun waren Aufschrift und Logo nur noch schemenhaft erkennbar.
Etwas abseits der Route 66 hatte es das Restaurant nie leicht gehabt. Doch der Besitzer, ein cleverer alter Ire, war in Sachen Marketing nicht auf den Kopf gefallen gewesen und hatte direkt an der 66 einen ausrangierten Schulbus geparkt. Darauf stand in riesigen Buchstaben:

Bob’s Burger Heaven
Eine Meile westlich
Eine Tasse Kaffee kostenlos
Täglich von 5 bis 22 Uhr

Natürlich war der Kaffee dünn, und die Tassen waren klein, das Restaurant in Wirklichkeit drei Meilen entfernt, doch der Trick funktionierte. Viele Reisende, vor allem schlecht bezahlte Trucker, nahmen das Angebot nur zu gern an. Und da die Burger tatsächlich himmlisch und die Preise moderat waren, kamen der Besitzer und seine Frau eine Zeit lang gut über die Runden.

Doch am 22. September 1978 kam das Ende der Route 66. Mit der Interstate 40 gab es nun einen modernen, mehrspurigen Highway, der die Ost- mit der Westküste verband. Bereits wenige Stunden nach der offiziellen Eröffnung begann die Route 66 abzusterben wie ein Fluss, aus dem man das Wasser umgeleitet hatte.

Tausende Geschäfte mussten schließen, zigtausende Arbeiter und Angestellte verloren ihre Jobs. Unzählige Tankstellen, Motels und Diner wurden aufgegeben, verrotteten langsam am Rande der Straße. So wie auch Bob’s Burger Heaven. Seine Besitzer gaben auf, verließen die USA, zogen zu Verwandten nach Kanada. Versuche, das Restaurant zu verkaufen, scheiterten. Erst im Jahr 2008 fand sich jemand, der bereit war, den Erben Haus und Grundstück abzukaufen.

Der Käufer saß nun in dem alten Diner, an einem festlich gedeckten Tisch für zwei Personen. Doch er saß allein am Tisch, und nur auf seinem Teller befand sich etwas zu essen. Auch war es nur sein Glas, in dem sich ein Schluck Wein befand. Er aß schweigend, still, voller Ernst. Zwischen zwei Bissen nahm er das Glas, prostete einer unsichtbaren Person am anderen Ende des Tisches zu.

Über all die Jahre konnte niemand ahnen, dass Bob die Einrichtung des Restaurants bei seinem Auszug nahezu unverändert gelassen hatte. Man glaubte das Gebäude leer, ausgeräumt, verlassen. Ein Lost Place. Doch wie in einer Zeitkapsel, vergraben im Fuß eines Denkmals, überdauerte die Einrichtung die Jahrzehnte unentdeckt und unverändert.

Und so saß der Mann nun, scheinbar allein, in einem original US-Diner der späten 1960er-Jahre. Da war der lange Tresen, vor dem eine Reihe fest montierter Drehhocker stand. Die Front des Tresens und die Bezüge der Hocker waren bespannt mit rissigem Kunstleder in einem hellen Pastellblau.

Über dem Tresen hingen mehrere Lampen, große, milchig weiße Kugeln, die an dünnen Kabeln wie schwerelos im Raum schwebten. Ihr schwaches Licht erinnerte an einen nebligen Wintertag, an dem die Sonne nicht die Kraft hatte, die Wolken zu durchdringen.

An der Wand hinter dem Tresen gab es Spiegel und Regale aus Glas, darauf verstaubtes Geschirr, Gläser, einige angelaufene, silberne Eisbecher. Darüber hing noch immer eine Tafel, auf der mit sauberer, deutlicher Handschrift die Preise der Speisen und Getränke von damals aufgelistet waren. Einen Cheeseburger gab es bereits für 50 Cent.
Im Gastraum standen in drei Reihen einfache Tische und Stühle. Der Fußboden war, gleich einem Schachbrett, schwarz-weiß gefliest. Die hellgelben verstaubten Tischplatten und die roten Bezüge der Stühle hoben sich deutlich vom Muster des Fußbodens ab.

Eine echte Wurlitzer-Jukebox wäre das i-Tüpfelchen gewesen, um die historische Atmosphäre zu komplettieren. Doch sie war einer der wenigen Gegenstände, die Bob 1980 vor seinem Umzug verkauft hatte. Daher sorgte jetzt das Mobiltelefon des Mannes für musikalische Untermalung. Es lag auf dem Tisch, spielte leise Only the Lonely von Roy Orbison.

Das Mahl des Mannes neigte sich dem Ende zu, sein Teller war nun leer. Er goss sich einen weiteren Schluck Wein ein, prostete erneut seinem unsichtbaren Gast zu. Er trank einen Schluck, nickte anerkennend, stellte das Glas zurück auf den Tisch.

Er stand auf, ging um den Tisch herum, blickte Richtung Boden. Da stand sie, eine niedrige Bahre auf Rollen, wie aus einem Krankenhaus. Von seinem Platz aus war sie nicht zu sehen gewesen, weil die Tischplatte ihm die Sicht versperrt hatte.

Auf der Bahre lag ein Körper, bedeckt mit einem weißen Tuch. Es war der Körper seines Geliebten, seines Engels, den er einmal im Monat feierlich zu sich in den Gastraum einlud. Sonst ruhte sein Geliebter im Kühlraum hinter dem Tresen, gleich neben der Küche.

Vorsichtig, behutsam, so als ob er seinen schlafenden Geliebten nicht versehentlich wecken wollte, schlug er das Tuch beiseite. Er faltete es sorgfältig zusammen, hängte es über einen Stuhl.

Der Tote, der dort auf der Bahre lag, war in etwa 30 Jahre alt. Er lag auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht, die Arme neben dem Körper. Seine Haut schimmerte in einem warmen Bronzeton, denn der Mann hatte den Toten bereits vor Monaten mit Theaterschminke eingerieben. Das regelmäßige Einfrieren und Auftauen war dem Zustand der Leiche allerdings nicht zuträglich; blaue und graue Flecken verunstalteten die Haut.

Eine blonde Perücke zierte das Haupt des Toten. Die Haare, zusammengebunden zu einem Zopf, lagen auf seinem Rücken, wo sie eine verwaschene Knast-Tätowierung verdeckten. Eine Hand, die Finger zum Okay-Symbol gespreizt, darunter in großen Buchstaben: White Power.

Er hatte dem Toten zudem die Fuß- und Fingernägel rot lackiert, die Lippen geschminkt. Etwas Rouge auf den Wangen sowie Lidschatten auf den Augenlidern gaben dem Antlitz des Verstorbenen etwas Feminines. Ein goldenes Fußkettchen sowie ein Perlenarmband perfektionierten das Erscheinungsbild seines Geliebten.

Zwischen den Hinterbacken der Leiche ragte ein altmodisches Fieberthermometer hervor. Er zog es heraus, überprüfte die auf der Skala angezeigte Temperatur. 54 Grad Fahrenheit, 12 Grad Celsius. Noch etwas kalt, aber stärker durfte er den Leichnam nicht erwärmen.

Der Mann zog seine Hose sowie seine Unterhose aus. Es war ihm anzusehen, dass er bereits erregt war. Bereits seit Tagen fieberte er der Zusammenkunft mit seinem Geliebten entgegen – nun war es endlich so weit.
Behutsam legte er sich auf den Körper des Toten. Er erschrak, als seine eigene Haut die kalte Haut seines verstorbenen Freundes berührte. Doch es war nur ein kurzer Moment. Dann nahm er das zart duftende Parfüm wahr, das den Leichengeruch überdecken sollte.

Aus dem Lautsprecher seines Handys erklang nun Blue Velvet, einer seiner Lieblingssongs von Roy Orbison. Er gab dem Toten einen Kuss auf die Wange, danach presste er seinen Unterkörper gegen den der Leiche. Es würde ein perfekter, wundervoller Abend werden.

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„Wird dir das nicht langsam langweilig? Immer nur Steak?“ Als das Essen kam, war es Rebecca, die die Tischkonversation eröffnete. Sie ernährte sich seit einigen Monaten vegetarisch und versuchte mal wieder, Mark davon zu überzeugen, das eine Zeit lang ebenfalls zu tun.

Während Mark wortlos sein Fleisch pfefferte, nicht auf ihren Kommentar einging, bearbeitete sie ihn weiter: „Filetsteak, Rumpsteak, T-Bone-Steak, Entrecôte, Tomahawk, Baby, ein Tyrannosaurus rex hat nicht so viel Fleisch gefressen wie du. Das kann doch auf die Dauer nicht gesund sein.“

Mit verführerischem Blick hielt sie ihm ihren Hamburger entgegen. Wie eine Mutter, die ihrem Kind etwas schmackhaft machen möchte, legte sie dabei in ihre Stimme einen vertrauenerweckenden, ruhigen Unterton: „Hier, schau dir meinen veganen Burger an, wie lecker der aussieht. Das Brot ist aus Dinkelmehl, der Salat und die Tomaten haben natürlich Bioqualität. Der Patty ist aus Soja und Tofu, das Gesündeste, was es gibt. Hmm.“

Mit geweiteten Augen biss sie gierig in den Burger, Ketchup und Mayonnaise quollen an den Seiten heraus. Mark schnitt sich ein stattliches Stück Fleisch ab, tauchte es in das Schälchen mit Barbecuesauce. Er beschloss, Rebeccas Versuchen, ihn zum Veganismus zu bekehren, ein Ende zu setzen. Vorerst zumindest.

„Honey, ich würde ja sehr gern auf Fleisch verzichten, glaub mir. Aber ein Mann in meinem Alter braucht viel tierisches Eiweiß, sehr viel.“ Er verschlang das Stück Fleisch in einem Biss, spülte es mit einem Schluck Bier herunter.

Er beugte sich über den Tisch zu ihr hinüber, sprach nun leiser: „Das gilt vor allem, wenn er mit einer sexhungrigen Frau zusammen ist, die es drei Mal am Tag besorgt bekommen will. Ohne ausreichende Eiweißzufuhr trocknet man da aus wie eine Mumie aus einem peruanischen Hockergrab.“ Mark kniff die Augen zusammen und zog seine Wangen nach innen, so, als würde in seinem Kopf vor lauter Austrocknung ein Unterdruck herrschen. Rebecca konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

Mit vom Ketchup verschmierten Lippen erwiderte sie: „Du Spinner! Wer hat mich denn heute morgen im Badezimmer überfallen, hm? Die Zeiten, in denen ich dich bitten musste, sind doch längst vorbei.

Aber gut, ich nehme die Herausforderung gern an. Nachher werden wir sehen, ob ich dich trotzdem in eine ausgetrocknete peruanische Hockergrabmumie verwandeln kann.“

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Mit Vollgas raste er über die dunkle Route 66. Die Tachonadel stand auf 220 Stundenkilometern, erlaubt waren hier 100. Der Belag der Straße war alt, rissig, verschlissen, an vielen Stellen nur notdürftig geflickt. So schnell durch die Nacht zu rasen, war Wahnsinn, doch für ihn zählte schon immer nur der Nervenkitzel.

Im schwachen Licht des Armaturenbretts konnte er sein Gesicht erkennen. Den Kopf leicht geneigt, grinste er ein bisschen verrückt, eine Zornesfalte zwischen den Augen gab ihm dazu noch etwas Böses. Etwas verrückt und böse, gegen diese Beschreibung seines Wesens hätte er nichts einzuwenden gehabt.

Schon als Kind war er ein Unruhestifter gewesen. Als er zehn Jahre alt war, gab sein Vater ihm daher den Spitznamen Trouble, Ärger. Dabei war es nicht etwa so, dass er sich vornahm, etwas Böses zu tun. Es steckte einfach in ihm drin. Und von Zeit zu Zeit, da wollte es raus.

Bei einem Ausflug nach Chicago besuchten er und seine Eltern den höchsten Wolkenkratzer der Stadt. Ohne Vorwarnung warf er ein Spielzeugauto im hohen Bogen über die Absperrung, die Lebensmüde von einem Selbstmord abhalten sollte. Die umstehenden Besucher schrien entsetzt auf, alle ahnten, dass selbst so ein kleiner Gegenstand, von hier oben aus fallen gelassen, weiter unten zum Geschoss werden konnte. Doch die Passanten auf der Straße hatten Glück, niemand wurde verletzt.

Ganz anders zwei Jahre später, als er von einer Eisenbahnbrücke aus einen Ziegelstein auf einen Zug fallen ließ. Der Stein durchschlug die Scheibe im Führerhaus des Triebwagens und verletzte den Lokführer schwer. Ein Zeuge konnte ihn beschreiben, doch da er beharrlich leugnete und es keine Beweise gab, kam er auch hier ungeschoren davon.

In den Jahren darauf legte er mehrfach Feuer, setzte einen Neubau unter Wasser, vergiftete über 500 Fische in einem Karpfenteich. Er brach in die Dorfschule ein, verwüstete das Klassenzimmer. Er schlich sich in die Kirche, dort schiss er auf den Altar, wischte sich mit einigen Seiten aus der Bibel den Hintern ab.

Doch er hatte aus seinen Fehlern gelernt. Er verstand es nun, seine „Streiche“, wie er sie nannte, geheim zu halten. Stets hatte er ein Alibi, niemand vermutete ihn hinter all den Schandtaten. Aus dem Verborgenen heraus beobachtete er die Folgen seines Tuns, und schon früh lernte er, dass Trugspuren ihm halfen, seine Häscher auf eine falsche Fährte zu führen. Seine Streiche wurden grausamer, brutaler, tödlicher.

Das Fernlicht schaffte es kaum, die Dunkelheit vor ihm auszuleuchten. Bei der hohen Geschwindigkeit hätte es zudem kaum eine Möglichkeit gegeben, rechtzeitig vor einem Hindernis abzubremsen oder auszuweichen. Ein tiefes Schlagloch, ein wildes Tier, das die Fahrbahn kreuzte, ein morscher Ast auf der Straße – es war wie russisches Roulette, nur mit einem Auto.

Am Horizont ein blaues Leuchten, ein Schild: Rest Area, Parkplatz. Er nahm den Fuß vom Gas, brachte den Wagen zum Stehen.

Schon tagsüber war auf der Route 66 nicht viel los. Es waren überwiegend Touristen, die hier auf gemieteten Motorrädern herumfuhren. Idioten, die glaubten, das gute alte Amerika wiederzuentdecken. Dabei war die 66 nichts anderes als eine alte, verrottete Straße, am Rand ein paar heruntergekommene, armselige Sehenswürdigkeiten.
Jetzt, bei Nacht, war die Mother Road, wie sie auch genannt wurde, nahezu menschenleer. Die Interstate 40 verlief in Sichtweite. Wer so spät irgendwo hinfahren musste, der benutzte die neuere Schnellstraße.

Er stellte den Motor ab, ließ die Scheinwerfer jedoch eingeschaltet. Sie leuchteten hinaus in die Wüste. Ödland, hier und da ein kleiner Busch, vertrocknetes Gras. Einige Insekten wurden vom Licht der Scheinwerfer angezogen, schwirrten im Dunkeln umher.

Vom Beifahrersitz nahm er eine Papiertüte, darin zwei Hamburger. Im Flaschenhalter der Mittelkonsole stand ein Pappbecher, abgedeckt mit einem Plastikdeckel, aus dem ein Trinkhalm herausragte. Er stieg aus, lehnte sich gegen die Motorhaube, genau zwischen die Scheinwerfer. Man konnte die Wüste riechen, Staub, einen leichten Öl- und Benzingeruch, der vom Motor ausging. Heiße Luft stieg vom Kühler her auf, zog unter seine dünne Uniformjacke, wärmte angenehm seinen Rücken.

Er stellte seine Pepsi hinter sich auf die Motorhaube, öffnete die Papiertüte. Er nahm einen Hamburger heraus, hielt ihn sich kurz an die Wange. Kalt, aber das war kein Problem. Mit Schwung warf er das Ding in die Nacht hinaus, genau in den Lichtkegel vor dem Wagen. Zufrieden beobachtet er, wie der Burger gut 15 Meter entfernt zwischen zwei Büsche fiel.

Den anderen Burger packte er aus, biss hungrig hinein. Auch kalt war er hervorragend, was an dem lockeren, handgemachten Fleisch-Patty lag. Es war viel saftiger, fettiger als die industriell gefertigten Tiefkühl-Patties, die einem in den meisten Burger-Läden vorgesetzt wurden. Hier kannte er sich aus, hatte er doch selbst einige Zeit hinter dem Tresen eines Schnellrestaurants gearbeitet.

Nach der Schule, die er nur mit Ach und Krach beendete, hatte er nicht so recht gewusst, wohin sein Weg ihn führen würde. Er versuchte sich als Taxifahrer, als Paketbote, als Hausmeister. Alles Jobs, für die man keine lange Ausbildung benötigte. Denn lange hielt er es nirgendwo aus, oder man feuerte ihn, weil er mit Kunden, Kollegen und vor allem Vorgesetzten aneinandergeriet.

Während er als Küchenhilfe im Schnellrestaurant arbeitete, bekam er mit einer Kellnerin Ärger, die seine Annäherungsversuche nicht zu schätzen wusste. Im Kühlhaus griff er ihr zwischen die Beine, unter den Rock, versuchte ihr den Finger reinzustecken. Sie schrie wie am Spieß, rammte ihm einen Kugelschreiber in die Wange. Der Chefkellner setzte dem Ganzen ein jähes Ende, indem er ihn mit einem Kopfstoß erst ausknockte und dann auf die Straße hinauswarf.

Zu seinem großen Glück erstattete die Frau keine Anzeige. So blieb auch dieser Streich für ihn weitestgehend folgenlos, eine kleine Narbe in der Wange ausgenommen.

Er trank einen Schluck von der eiskalten Cola, als er vor sich in der Wüste eine Bewegung wahrnahm. Langsam und leise stellte er den Becher hinter sich, legte den kleinen Rest des Burgers beiseite.
Aus dem Dunkel der Nacht schlich ein Kojote herbei. Das Tier hatte den Burger gewittert, der da draußen so unwiderstehlich duftete. An Menschen war es gewöhnt, und hier in der Nähe des Rastplatzes gab es regelmäßig eine Extraportion zu holen.

Vorsichtig, ganz vorsichtig zog der Mann eine Pistole aus dem Halfter an seiner Hüfte. Das Tier jetzt bloß nicht verschrecken. Der Mann wusste, dass er hier, genau zwischen den Scheinwerfern, nahezu unsichtbar war. Doch würde der Kojote ihn wittern oder er ein Geräusch von sich geben, wäre die Vorsicht vielleicht stärker als der Hunger.

Die Automatik im Kaliber 9 mm Luger war eigentlich etwas zu „schwach auf der Brust“, wie er zu sagen pflegte. Doch er besaß noch eine ganze Reihe anderer Waffen. Bei Bedarf nahm er eine Glock im Kaliber .45 Auto oder einen Revolver .44 Magnum mit auf Tour.

Langsam hob er die Waffe auf Augenhöhe, zielte, die Pistole einarmig haltend, über Kimme und Korn. Bei diesen Lichtverhältnissen war der Schuss alles andere als einfach, doch wie hieß es so schön: Übung macht den Meister.
BAM! Der Schuss krachte, eine Feuerlanze schoss aus dem Lauf. Ein kurzes Jaulen, fast gleichzeitig mit dem Schuss, verriet ihm, dass er das Tier wohl getroffen hatte.

Lächelnd ging er auf den verwundeten Kojoten zu. Steine und Kies knirschten unter seinen Sohlen, verrieten dem Opfer, dass sein Peiniger sich näherte.

Nichts ist gefährlicher als ein verwundetes Tier, das wusste er. Die Waffe weiterhin schussbereit in der Hand, erreichte er es. Eine faustgroße Wunde klaffte in seinem Hinterleib, aber noch lebte es. Mit Panik in den Augen blickte es ihn an, versuchte zu fliehen. Zitternd und winselnd kroch es ein kurzes Stück, seine Hinterbeine versagten ihm jedoch den Dienst. Plötzlich, ganz unverhofft, gab es auf, sackte in sich zusammen, schloss die Augen, legte den Kopf auf den Boden und starb lautlos und schnell.

Für eine Minute stand er neben dem toten Kojoten, genoss den Moment. Ein guter Schuss, dazu noch einhändig, im Licht der Scheinwerfer. Er nickte zufrieden, steckte die Waffe zurück ins Holster.
Als er sich umdrehen und zurückgehen wollte, fiel sein Blick auf den Hamburger. Er bückte sich, hob den Burger auf, betrachtet ihn von allen Seiten. Die Papierhülle war unbeschädigt. Er lächelte verschmitzt, beschloss, ihn mitzunehmen. Die Nacht war ja noch jung, und sicherlich würde sich später noch eine Gelegenheit ergeben, jemand anderem einen Streich zu spielen.

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Rebeccas Haus lag am Hang, oberhalb der Bucht im kleinen Ort Sausalito. Auf den ersten Blick wirkte das Haus unscheinbar, ein Holzhaus mit hellem Anstrich und Satteldach, nicht anders als das Heim von Millionen einfachen Amerikanern. Doch Sausalito, gelegen am Ende der Golden Gate Bridge, gegenüber von San Francisco, war kein normaler Ort. Die Immobilienpreise waren hier astronomisch hoch, und so war es nicht verwunderlich, dass Sausalito vorwiegend den wohlhabenderen Bevölkerungsschichten vorbehalten war.

Allein schon der Blick von der Terrasse des Hauses erklärte seinen Preis. Man überblickte fast den gesamten Ort, die Bucht mit dem pittoresken Hafen. Man sah die Spitzen der Golden Gate Bridge, die Skyline von San Francisco. Bei Nacht und klarer Sicht war der Ausblick schlicht atemberaubend schön.

Doch heute Nacht war es alles andere als klar. Wie so oft zog dichter Nebel in die Bucht von San Francisco. Mark saß leicht fröstelnd auf der Terrasse. Ein Sprichwort des Schriftstellers Mark Twain kam ihm in den Sinn: Der kälteste Winter meines Lebens war ein Sommer in San Francisco.

Rebecca kam heraus, sie reichte ihm eine dünne Decke, die er dankend annahm und sich um die Schultern legte. Sie setzte sich ihm gegenüber, zwischen ihnen auf dem Tisch nur ein elektrisches Teelicht. Es imitierte das Flackern einer echten Kerze, doch anders als diese konnte es vom Wind nicht ausgeblasen werden.

Rebeccas Blick war ernst und auch ein wenig traurig. Mark, der in Gedanken versunken in den Nebel starrte, bemerkte ihn zunächst nicht. Doch dann sah er aus den Augenwinkeln, dass seine Freundin ihn besorgt musterte.
„Du warst heute den gesamten Tag über nicht wirklich bei dir. Nicht, als wir uns heute Morgen geliebt haben, nicht, als wir in der Stadt einkaufen waren, nicht beim Golf und auch nicht beim Abendessen. Du bist wortkarg, und immer wieder, wenn ich dich ansehe, blickst du irgendwie ins Leere. Du bist unglücklich. Bitte sag mir, was dir fehlt.“

Mark war nicht überrascht, dass Rebecca seine Verstimmung bemerkt hatte. Ihr Gespür für die Gefühle und Gedanken anderer Menschen war schlicht phänomenal. Schon oft hatte sie seine Emotionen wahrgenommen, noch bevor sie ihm selbst so richtig bewusst waren.

Mark zögerte mit seiner Antwort, überlegte, den Blick zunächst abgewandt. „Wir sind jetzt seit gut zwei Jahren ein Paar. Wir ergänzen uns hervorragend, kommen gut miteinander aus, es gibt kaum Streit zwischen uns. Wir kennen keine Geldsorgen, sind beide gesund. Ich liebe dich mehr denn je, und eigentlich sollte ich der glücklichste Mensch auf Erden sein. Doch leider fehlt mir etwas, das du mir nicht geben kannst.“

Er reicht ihr die Hand über den Tisch, Rebecca erwiderte die Geste, umschloss seine Finger mit den ihren. Er zog sie zu sich heran, gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Wir stehen morgens auf, gehen zum Sport, danach shoppen wir. Wir fahren in die Stadt, gehen essen, kommen nach Hause, haben Sex. Nachmittags heißt es Golf oder Tennis, dann gehen wir wieder in ein Restaurant, besuchen ein Konzert oder sehen uns im Kino einen Film an. Wir leben wie zwei wohlhabende Pensionäre. Wir schlagen die Zeit tot, leben in den Tag hinein.“

Sie blickten einander jetzt an, Mark wollte Rebeccas Reaktion sehen. „Wenn ich abends nach Haus komme, hier auf der Terrasse sitze, denke ich darüber nach, was ich an diesem Tag geleistet habe. Welcher Mensch da draußen bedankt sich im Stillen, dass es mich gibt?“

Tuuuuut. Das Nebelhorn der Golden Gate Bridge hallte laut durch die Nacht. Mark ärgerte sich über die Unterbrechung, sie brachte ihn aus dem Konzept. Tuuuuut.

Rebecca zog die Mundwinkel herunter, ihr Blick hatte etwas Verzweifeltes. Sie stand auf, kam zu ihm herüber, setzte sich breitbeinig auf seinen Schoß. Sie umarmte ihn dabei, legte ihren Kopf an seine Schulter. „Ich bedanke mich jeden Abend bei Gott dafür, dass es dich gibt. Du hast meinem Leben wieder einen Sinn gegeben. Reicht dir das nicht?“

Ohne seine Antwort abzuwarten, nahm sie den Kopf zurück, blickte ihm kurz in die Augen, gab ihm dann einen festen Kuss auf die Lippen. „Ich kann deine Gefühle verstehen, denn ich kenne sie. Als ich damals bei der Polizei aufgehört habe, ging es mir nach einem Jahr genauso.“

Tuuuuut. Mark dachte für einen kurzen Moment darüber nach, wie es wohl wäre, bei Dunkelheit und Nebel auf einem Schiff in einen Hafen einzulaufen. Tuuuuut.

„Mein Exmann Tom hatte damals die Idee, dass ich es mal als Model versuchen sollte. Er kannte da jemanden bei einer Agentur. Eigentlich war ich für den Job schon zu alt, doch da sie mir nichts zahlen mussten, stellten sie mich tatsächlich ein. Ich wurde Fotomodell.“

Jetzt sah Mark vor seinem geistigen Auge Rebecca, wie sie – die Hüften schwingend – über einen Laufsteg schritt.
„Ich dachte, ich würde die Welt sehen, tolle Leute kennenlernen, ein aufregendes Leben führen. Pustekuchen.“
Sie drückte ihren Freund tröstend an sich, sprach weiter. „Ständig hängst du am Flughafen herum, wartest. Dann sitzt du im Flieger, stundenlang. Ein Taxi holt dich ab, karrt dich in ein zweitklassiges Hotel. Später geht es in irgendein Theater, wo du wieder für Stunden in der Garderobe hockst. Du wirst frisiert, geschminkt, angezogen. Dann geht es für 90 Sekunden auf den Laufsteg. Und das war’s.“

Sie änderte ihre Sitzposition, legte ihm die Hände auf die Schultern. Das Licht der elektrischen Kerze sorgte für ein interessantes Lichtspiel auf ihrem Gesicht. Sie lächelte nun. „Dann geht es wieder zurück zum Hotel, zum Flughafen, und das ganze Spiel wiederholt sich. Und zwischendurch irgendwelche Kerle, die dir an die Wäsche wollen. Ein schreckliches Leben. Nach zwei Wochen habe ich den Job an den Nagel gehängt.“

Rebecca legte zärtlich die Hände an Marks Wangen, zwang ihn so, sie anzusehen. Sie zwinkerte ihm zu, fuhr fort: „Ich war froh, als ich wieder wie zuvor ganz allein über mein Leben verfügen konnte. Sport, Shoppen, Kino, gute Restaurants. Und natürlich Sex.“

Mark wollte ihr antworten, doch seine Freundin war noch nicht fertig. Ihre Stimme wurde nun eindringlicher. „Glaubst du ernsthaft, du könntest wie früher als Polizist arbeiten und dabei glücklich werden? Im Streifenwagen hocken, den Verkehr beobachten? Dich mit irgendwelchen kriminellen Kids herumärgern? Würde es dich glücklich machen, wenn du dein Leben riskieren müsstest bei der sinnlosen Jagd nach irgendwelchen Drogendealern? Dealer, die schon am nächsten Tag wieder aus dem Knast raus sind?“

Nein. Im Stillen musste er ihr recht geben. Als Rebecca mit ihrem feinen Gespür erkannte, dass sie dabei war, ihren Freund umzustimmen, legte sie sofort nach. „Du bist jetzt 40. Vor dir liegen die vielleicht wichtigsten und schönsten Jahre deines Lebens. Der größte Luxus dieser Welt ist Zeit, und du kannst frei über sie verfügen.“
Sie zog Marks Kopf zu sich heran, küsste ihn erneut auf den Mund. Als sie bemerkte, dass er sich widerstandslos küssen ließ, gab sie ihm sofort einen Kuss mit Zunge. Mit geschlossenen Augen genossen sie beide den zärtlichen Moment. Mark entspannte sich.

Zu seiner Überraschung löste sich Rebecca von ihm, stand auf. „Langsam wird mir kalt. Warte, ich hol uns beiden mal ein Bier. Und dann verrate ich dir meine Idee.“ Es dauerte nur einen Moment, dann kam sie zurück, nun bekleidet mit einer warmen Jacke, in den Händen zwei Dosen Budweiser. Sie öffnete die Dosen, reichte Mark eine davon. „Prost, Buddy. Auf uns.“

Als Mark ihr zuprostete, erkannte er an ihrem verschmitzten Lächeln sofort, dass sie etwas ausgeheckt hatte. Sie tranken beide einen Schluck, dann begann Rebecca, sichtlich amüsiert.

„Also, es gibt zwei Möglichkeiten. Nummer eins: Wir eröffnen ein Konto bei Onlyfans, drehen ein paar scharfe Pornos und laden sie hoch. Vor der Kamera machen wir beide noch eine ganz passable Figur, und mit Sex kennen wir uns aus. Das könnte klappen.“

Für eine Sekunde war Mark geneigt, ihr den Vorschlag als ernstgemeint abzukaufen. Doch dann erkannte er, dass sie ihn nur auf den Arm nahm. Mit einem breiten Grinsen fuhr sie fort: „Nur bist du leider zu prüde dafür, also bleibt nur Nummer zwei. Wir gründen eine Privatdetektei.“

Auch diesen Vorschlag hielt Mark zunächst für einen Witz. Doch in den vergangenen zwei Jahren hatte er gelernt, Rebeccas Mimik zu deuten. Sie lächelte zwar, doch sie meinte es ernst. Bevor er antworten konnte, unterbrach sie ihn mit einer abwehrenden Geste.

„Ich weiß genau, was du denkst, aber ich habe da schon genau drüber nachgedacht. Wir sind beide ausgebildete Polizisten, für die Arbeit als Detektive qualifiziert. Diese Arbeit können wir zudem gemeinsam ausüben. Sie ist spannend, aufregend, abwechslungsreich. Ich habe sogar schon eine Idee, wie wir die Firma nennen können: Rebecca und Mark – Private Investigations. R.M.I.“

Langsam dämmerte es Mark, dass Rebecca ihm hier keine spontane Idee auftischte. Sie hatte sich wahrscheinlich schon über einen längeren Zeitraum damit befasst. Er war fassungslos, konnte nicht glauben, was er da hörte. „Spannend, aufregend und abwechslungsreich? Wie stellst du dir das vor? Das wir zusammen untreue Ehemänner beobachten? Bei einem Kidnapping das Lösegeld überbringen?“

Selbstbewusst schüttelte Rebecca den Kopf. „Wir nehmen nur Aufträge an, die uns ins Konzept passen. Nichts Schmieriges, nichts Gefährliches. Ich denke da an Wirtschaftskriminalität, Versicherungsbetrug, solche Sachen.“
Mark trank einen Schluck Bier, Rebecca tat es ihm gleich. Er überlegte, welche Einwände er vorbringen konnte, sie arbeitete bereits an der Verteidigung ihrer Idee. Für einen Moment herrschte eine angespannte Stille.

In sachlichem Ton brachte Mark seine Bedenken vor: „Wie gedenkst du an Aufträge zu kommen? Es gibt doch sicher etliche alteingesessene Detekteien in San Francisco. Dazu Hunderte kleine Privatschnüffler. Keiner wartet doch ausgerechnet auf uns!“

Genau wie er es erwartet hatte, konterte Rebecca mit gut vorbereiteten Argumenten. Sie hatte tatsächlich schon länger an der Idee eine Privatdetektei getüftelt. „Wir verteilen unsere Visitenkarten im Golfclub, im Tennisverein, im Fitnesscenter. Auch beim Yoga und beim Pilates kenne ich mehrere Dutzend Frauen, allesamt gut situiert. Dein Bruder leitet eine große Werbeagentur. Der kann uns sicher auch helfen.“

Mark starrte in die Nacht hinaus. Die Wolken hatten sich verzogen, man konnte nun die Skyline von San Francisco auf der anderen Seite der Bucht erkennen. Ihm war klar, dass er Rebecca nicht mehr umstimmen konnte. Was hatte er da nur angerichtet?

Auch Rebecca blickte zu den Lichtern der Großstadt hinüber. In ihrer Stimme lag Pathos, als sie mit großer Geste ihre Bierdose in Richtung der Stadt schwenkte. „Da drüben liegt unser Revier, Buddy. Morgen früh fahren wir zum Rathaus und melden unsere Firma an. Danach soll uns dein Bruder ein Logo, Visitenkarten und eine Website gestalten. Ich bin mir sicher, in einer Woche arbeiten wir an unserem ersten Fall.“

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Es war mitten in der Nacht, als er durch ein ungewöhnliches Geräusch erwachte. Ohne Alkohol im Blut schlief er nie sehr fest, und auch die Kälte und der harte Untergrund trugen ihren Teil dazu bei, dass er nur schwer zur Ruhe kam.

Auf seinem Lager aus alten Pappkartons, das er sich unter der Brücke eingerichtete hatte, drehte er sich ungelenk zur Seite. In der Ferne sah er die Rücklichter eines Autos. War es der Motor, der ihn geweckt hatte? Nur selten kam hier, an einer Nebenstraße der alten Route 66, nachts ein Auto vorbei.

Unruhig richtete er sich auf, Angst packte ihn. Vor einigen Jahren war er nachts überfallen und zusammengeschlagen worden. Eine Gruppe Jugendlicher, irgendwelche Rowdys, die nur aus Langeweile andere Menschen krankenhausreif prügelten.

Er starrte in die Dunkelheit, lauschte, doch da war niemand. Er kramte in seiner Manteltasche, fand sein Feuerzeug. Mit einem Druck seines Daumens brachte er die Flamme zum Brennen, beleuchtete seine Umgebung.
Da. Unglaublich. Ein Softdrink-Becher wie aus einem Schnellrestaurant, daneben ein in Papier eigeschlagener Burger. Sein Herz machte einen Freudensprung. Er blickte in Richtung des Wagens, dessen Lichter gerade verschwanden. Er beschloss dennoch, dem unbekannten Fahrer einen Gruß hinterherzurufen. „Ich danke dir, edler Spender! Möge der Herrgott dich auf allen deinen Wegen stets beschützen.“

Für einen Obdachlosen war es in dieser entlegenen Gegend nicht leicht, über die Runden zu kommen. Der Hunger war sein ständiger Begleiter. Gute Menschen, die einem armen Penner wie ihm mal etwas Gutes taten, gab es leider viel zu selten.

Gern hätte er beim Essen etwas Licht gehabt, doch jetzt nach der Kerze zu suchen, war ihm zu mühselig. Hastig zog er den Burger und den Becher zu sich heran, steckte das Feuerzeug zurück in seine Tasche.
Aufgeregt wickelte er in der Dunkelheit das Papier ab, führte den Burger zunächst an die Nase. Er wusste, wie Verdorbenes roch, doch dieser Burger hier duftete köstlich. Hungrig biss er in das mit dem Fleischklops belegte weiche Brötchen, kaute gierig.

Wirklich köstlich, dachte er, dabei schlang er das Essen herunter wie ein hungriges Tier. Er schmeckte das Fleisch, den Ketchup, die Mayonnaise, dazu auch etwas Scharfes wie Tabasco. Während er noch an seinem zweiten Bissen kaute, explodierte etwas in seinem Mund und seinem Rachen. Eine Hitze machte sich dort breit, ein Brennen, als hätte er kochendes Wasser getrunken. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass es wohl doch kein Tabasco war, mit dem man den Burger gewürzt hatte. Er wusste, dass es weitaus Schärferes gab. Chilipulver vielleicht oder eine Riesenportion Cayennepfeffer. Tränen schossen ihm in die Augen, er bekam plötzlich keine Luft mehr. Hastig spuckte er den letzten Bissen aus, würgte. Jetzt schnell etwas trinken, ging es ihm durch den Kopf.

Er warf den Burger beiseite, griff nach dem Becher. Mit zitternder Hand riss er den Deckel ab, führte das Gefäß zum Mund, trank einen Schluck, würgte erneut. Pisse. In dem Becher befand sich lauwarme Pisse.
Während er sich heftig auf seinen Schlafsack erbrach, verfluchte er den Schweinehund, der sich diesen üblen Scherz mit ihm erlaubt hatte. Hoffentlich, dachte er, poliert diesem gottverdammten Scheißkerl mal jemand so richtig die Fresse.

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Vier Wochen später

Exakt vier Wochen, nachdem sie ihr Unternehmen gegründet hatten, war die Stimmung im Hause Stetson-Romania, gelinde gesagt, im Arsch.

Mark lag auf dem Sofa im Wohnzimmer, starrte an die Decke. Rebecca, die Hände zu Fäusten geballt, tigerte unruhig auf und ab. Sie hatte etwas abgenommen, die Anspannung der letzten Wochen hatte bei ihr zu einer permanenten Nervosität geführt. Sie schlief schlecht, ihr Appetit war gestört.

Entgegen ihren Erwartungen schien sich kein Mensch für ihre Dienste zu interessieren. Dabei hatten sie Hunderte Visitenkarten verteilt. Überall hieß es: „Oh, wie interessant, ihr seid jetzt Privatdetektive?“ Es wurde jedoch kein einziger Auftrag daraus.

Doch Rebecca war niemand, der schnell klein beigab. Sie schaltete eine Reihe von teuren Anzeigen, gab viel Geld für Google-Werbung aus. Aber außer ein paar Spinnern, die ihnen Geheimagenten-Ausrüstung und andere Gimmicks verkaufen wollten, meldete sich niemand.

Müde stand Mark auf, beobachtete seine Freundin. Er machte sich Sorgen und auch Vorwürfe. Ohne seine Klagen wären sie nicht in diese Situation geraten, hätte Rebecca sich niemals zu dieser Fehlentscheidung genötigt gesehen.
„Baby, hör bitte auf, dich verrückt zu machen. Komm her und nimm mich in den Arm.“ Als er sah, dass Rebecca seinem Wunsch nicht folgen würde, ging er seinerseits auf sie zu, umarmte sie.

Er drückte sie fest an sich, gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Rebecca, bitte komm wieder runter. Es war einen Versuch wert. Aber wir müssen uns beide eingestehen, dass niemand, absolut niemand, auf uns gewartet hat. Du hast doch das Telefonbuch von San Francisco gesehen.“

Dort gab es nicht weniger als acht Seiten, voll mit Anzeigen von Detekteien. Hätten sie vor der Firmengründung einen Blick hineingeworfen, wäre ihnen die Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens sofort bewusst geworden.
In seinen Armen erschlaffte Rebecca wie eine Puppe. Sie drückte ihr Gesicht gegen seine Brust, fing leise an zu schluchzten. Er streichelte ihren Rücken, versuchte sie zu trösten. „Ich schlage vor, wir verschwinden erst mal für ein paar Wochen in den Urlaub. Du wolltest doch sowieso bald nach Hawaii, um dort tauchen zu lernen. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt dafür.“

Es dauerte einen Moment, bis Rebecca sich gefasst hatte. Sie gab sich einen Ruck, richtete sich auf. Wütend blickte sie ihm in die Augen. „Aufgeben ist eigentlich nicht meine Sache. Ich gebe dir jedoch recht, geschäftlicher Erfolg lässt sich nicht erzwingen. Wir warten noch bis zum Wochenende, dann melden wir die Firma wieder ab.“ Sie zögerte, brachte ein verkrampftes Lächeln zustande. „Und dann verschwinden wir nach Hawaii.“
Mark versuchte, sich seine Erleichterung nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Eine tonnenschwere Last fiel von seinen Schultern. Von Anfang an hatte er diese Idee für das gehalten, was sie letztendlich auch war: eine Schnapsidee.

„Ich mache uns erst mal einen Kaffee. Willst du einen Latte Macchiato oder einen Cappuccino?“ Während er in die Küche ging, plante er bereits das weitere Vorgehen. Noch heute würde er die Reise buchen, mit Rebecca die Tauchschule aussuchen. Das würde sie sicher ablenken und auf andere Gedanken bringen.

Ring-Ring, Ring-Ring. Ein altmodischer Klingelton, wie von einem mechanischen Telefon. Rebeccas Handy. Mark erstarrte. Aus der Küche hörte er mit, wie sie das Gespräch entgegennahm.

„Rebecca und Mark Investigations, Rebecca am Apparat. Was kann ich für Sie tun?“ Stille. „Hi, Amanda! Na, klar erinnere ich mich an dich. Wir sind zusammen im Pilates-Kurs.“ Stille. „Ja, ich war die letzten Male nicht da, es gibt hier reichlich zu tun.“ So, so, dachte Mark. Reichlich zu tun. „Ein dringender Auftrag? Ob wir Zeit haben? Warte, ich schau mal in den Kalender.“ Mark glaubte seinen Ohren nicht zu trauen.

„Amanda, das sieht gut aus. Heute Nachmittag hätten wir eine Stunde Zeit für eine Besprechung. Passt euch vier Uhr?“ Mark blickte auf seine Hände, die vor Anspannung zitterten. „Gut, dann heute um vier in Brodys Café. Wir freuen uns auf dich und deine Bekannte.“

Mit einem Kloß im Hals überlegte Mark, was er da gerade mitgehört hatte. War das nur ein Traum? Da kam Rebecca in die Küche, die Arme selbstbewusst vor der Brust verschränkt. „Stetson, wir sind wieder im Geschäft. Für mich bitte einen doppelten Espresso.“

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Amanda hatte sie kurz mit ihrer Freundin bekannt gemacht, sich dann höflich zurückgezogen. Nun saßen sie zusammen mit Ms Rosemarie Newton an einem Tisch. Mark hatte beschlossen, sich zurückzunehmen. Es war alles Rebeccas Idee, sie sollte das Gespräch führen. Er würde nur als stiller Beobachter fungieren.

„Zunächst einmal vielen Dank, dass Sie es geschafft haben, dieses für mich sehr wichtige Treffen so kurzfristig anzuberaumen.“ Rebecca nickte unverbindlich, lächelte dabei. Mark war peinlich berührt, schließlich hatten sie der Frau nicht die Wahrheit gesagt. Doch es kam noch schlimmer. „Es ist ja heutzutage nicht einfach, eine gute Detektei zu finden, die einem so spontan einen Termin anbieten kann. Ich weiß das wirklich zu schätzen.“
Auch Rebecca war jetzt anzusehen, dass ihr die kleine Lüge zunehmend unangenehm wurde. Doch was sollten sie der Frau sagen? Die fuhr unbeirrt fort: „Ich bin Doktor Rosemarie Newton, aber bitte nennen Sie mich einfach Rose. Mir gehört die größte Praxis für ästhetische Zahnchirurgie in San Francisco.“

Jetzt erkannte Mark sie. Er erinnerte sich, ihr Gesicht auf einigen Billboards gesehen zu haben und auch in Fernsehspots im Regionalfernsehen. Shine like a Star – Zähne von Rose Newton. Vor ihnen saß eine überaus vermögende Frau.

Sie war Mitte, Ende 50, hatte einiges an ihrem Gesicht verändern lassen. Etwas zu viel, wie Mark fand. Zu volle Lippen, zu straffe Wangen, die Stirn etwas zu glatt. Die Haare hellblond gefärbt, mit Extensions verlängert und verdichtet. Dennoch wirkte sie nicht unsympathisch, im Gegenteil. Ihr perfektes Lächeln strahlte Wärme aus, ihre Stimme Herzlichkeit.

Rose wartete auf Fragen, doch Rebecca gab ihr mit einer kleinen Geste zu verstehen, dass sie fortfahren sollte. Sie räusperte sich. „Vor genau viereinhalb Wochen, am 23. Juni, ist mein Sohn Adam verschwunden. Er war mit einem Motorrad auf der Route 66 unterwegs.“ Wirkte sie soeben noch gefasst, füllten sich ihre Augen nun von einem Moment auf den anderen mit Tränen. Sie rang um Fassung.

„Er hatte gerade sein Studium der Zahnmedizin beendet, sollte demnächst seinen Platz in meiner Praxis einnehmen. Die Maschine und die Reise selbst waren ein Geschenk von mir. Er träumte bereits seit Jahren davon, die 66 in voller Länge mit dem Motorrad zu bereisen. Es fing alles so gut an, doch jetzt sind er, das Motorrad, seine Kreditkarten, sein Gepäck, also einfach alles, spurlos verschwunden. Adam ist spurlos verschwunden.“

Der Kellner kam an ihren Tisch, doch bevor er etwas fragen konnte, gab Mark ihm ein Zeichen. Er zog sich zurück. „Falls Sie denken, ich hätte Adam vielleicht gezwungen, in die Praxis einzusteigen, muss ich Sie enttäuschen. Er ist in der Praxis aufgewachsen, hat schon als Kind ‚Zahnarzt‘ gespielt. Mein verstorbener Mann Carl hat die Praxis gegründet, es war immer Adams großer Wunsch, eines Tages in die Fußstapfen seines Vaters zu treten.“

Rebecca hatte einen Notizblock nebst Stift mitgebracht, notierte sich einige Stichworte. „Was war das für ein Motorrad, und wo genau ist Ihr Sohn verschwunden?“ Rose kramte einen Schnellhefter aus ihrer Handtasche, zog daraus zunächst ein Foto hervor. „Hier sehen Sie Adam kurz vor der Abreise auf seiner Maschine, einer 1967er Indian. Ich habe die Maschine aus Deutschland importiert, dort wurde sie ein Jahr lang aufwendig restauriert.“
Sie reichte das Bild zunächst Rebecca, die es kurz betrachtete: „Ein auffallend gutaussehender junger Mann, Ihr Sohn. Und ein extrem auffallendes Motorrad. Wie alt ist Adam?“ Rebecca schob das Foto weiter zu Mark.
Tatsächlich sah Adam sehr gut aus. Groß, athletisch, braungebrannt. Markante Gesichtszüge, blonde, nach hinten gekämmte Haare. Er trug eine Pilotenbrille auf der Stirn, blickte stolz in die Kamera. Hinter ihm stand das Motorrad. Goldgelb, mit ausladenden Schutzblechen, viel Chrom. Ein echter Oldtimer, ein absoluter Hingucker. Und bestimmt sehr teuer, dachte Mark.

„Adam ist gerade 27 Jahre alt geworden. Ja, er sieht gut aus, ein Mädchenschwarm. Dazu ein exzellenter Sportler. Er bekam ein Angebot, in den Profi-Football zu wechseln. Doch er entschied sich für die Praxis.“
Rose zog eine zusammengefaltete Karte hervor, breitete sie auf dem Tisch aus. „Verschwunden ist er irgendwo zwischen New Mexico und Arizona. Ich hatte ihn eigentlich gebeten, dass er sich jeden Tag bei mir meldet, doch er hat sich nie daran gehalten. Manchmal ließ er zwei oder sogar drei Tage nichts von sich hören. Aber ich war ihm da nicht böse, schließlich ist er kein kleines Kind mehr. Und welcher Sohn will sich schon täglich bei seiner Mutter melden?“

Im Kopf fasste Mark zusammen, was er über New Mexico und Arizona wusste. Trocken, staubig, viel Wüste. Und nur wenige Menschen. Irgendwo hatte er gelesen, dass in New Mexico lediglich sechs Einwohner auf den Quadratkilometer kamen. Zwei arme Bundesstaaten, in denen es reichlich Probleme gab. Drogen, Alkohol, Arbeitslosigkeit, besonders die dort lebende indigene Bevölkerung, die Native Americans, hatte mit den harten Lebensumständen zu kämpfen. Aber auch für viele aus Südamerika stammende Einwanderer, die sich oftmals ohne gültige Aufenthaltserlaubnis im Land aufhielten, war das Leben dort nicht einfach.

Auch Rebecca dachte nach. Sie blickte auf die Karte auf dem Tisch, erinnerte sich dabei an einen früheren Skiurlaub in New Mexico. Im Winter gab es dort einige hochpreisige Skigebiete, der Ort Taos galt zudem als Treffpunkt vieler Künstler. Aber auch sie erinnerte sich an oft bettelarme Einheimische, die am Straßenrand einfachen, handgemachten Schmuck verkauften. Sie löste sich von der Karte, drehte sich zu Rose. „Was hat denn die Polizei herausgefunden? Ist das FBI in die Suche involviert?“

Rose trank einen Schluck Wasser, sammelte sich kurz. Ihr Gesicht bekam einen wütenden Ausdruck. „Großartig angestrengt hat man sich da nicht. Einige Streifenwagen sind herumgefahren, die Polizisten haben an Tankstellen und in Restaurants Fotos herumgezeigt. Natürlich erinnerte man sich hier und da an Adam, auch an das Motorrad. Aber niemand konnte oder wollte etwas zu seinem Verschwinden sagen.“

Sie zeigte auf die Karte, zog mit dem Finger einen Kreis um das Grenzgebiet. „Erschwerend kommt hinzu, dass das Suchgebiet, das in Frage kommt, ja nicht gerade klein ist. Die Route 66 ist lang, dazu Dutzende Nebenstraßen, viele davon führen in entlegene Wüstenstädte. Adam ist begeisterter Fotograf, immer auf der Suche nach Lost Places und Geisterstädten. Und davon wimmelt es da unten.“

Lost Places. Auch Mark war von diesen abgelegenen, oftmals seit Jahren nicht mehr von Menschen betretenen Gebäuden und Orten fasziniert. Rose berichtete weiter: „Am 24. Juni zog da unten eine große Gewitterfront durch. Man vermutet, dass Adam sich vielleicht zum Schutz vor dem Unwetter irgendwo untergestellt hat. Irgendeine alte Scheune, abseits der Straße. Oder eine aufgegebene Tankstelle. So etwas gibt es da reichlich.“

Sie überlegte, was sie den beiden Detektiven noch erzählen könnte. „Das FBI ist mit einem Hubschrauber auf die Suche gegangen; auch ich selbst habe einen Heli samt Pilot gechartert. Das Motorrad ist ja sehr auffällig. Wäre er irgendwo in der Wüste liegengeblieben, hätten wir ihn bestimmt gefunden. Aber Fehlanzeige. Er bleibt spurlos verschwunden.“

Rebecca schrieb eifrig mit. Fotograf sowie Lost Places unterstrich sie zweimal auf ihrem Notizblock. Dann legte sie alles beiseite, wandte sich direkt an Rose. „Was denken Sie, können wir für Sie und Ihren Sohn tun?“
Rose zögerte kurz, so als wäre sie sich darüber selbst noch nicht so genau im Klaren. Doch dann verblüffte sie Rebecca und Mark mit einem gut durchdachten Plan.

„Ich möchte, dass Sie inkognito einen Teil der Reiseroute meines Sohnes nachfahren. Es gibt dort unten viele Menschen, die nicht gut auf die Polizei zu sprechen sind. Zwei Biker, ein Pärchen, die als Touristen auf der 66 unterwegs sind, denen erzählt man vielleicht mehr. Besuchen Sie die Orte, an denen auch Adam war. Die Hotels, die Diner, die Tankstellen. Schauen Sie sich um, reden Sie unauffällig mit den Leuten dort unten. Irgendwer hat vielleicht etwas gesehen.“

Rebecca und Mark tauschten einen kurzen Blick. Doch Rose war noch nicht am Ende mit ihren Ausführungen. „Ich habe eine Belohnung ausgelobt. 100.000 Dollar für denjenigen, der Hinweise zum Verbleib von Adam geben kann. So stand es in der Zeitung, und so steht es auch auf den Steckbriefen, die an den Polizeistationen in der betreffenden Gegend aushängen. Ich hatte mir davon einiges erhofft, doch zu meinem Erstaunen gab es keine brauchbaren Hinweise, die uns zu Adam hätten führen können.“

Rose beugte sich etwas weiter über den Tisch, sie sprach nun leiser: „100.000 Dollar sind für die Menschen da unten ein Vermögen. Dass sich niemand gemeldet hat, bedeutet für mich, dass entweder tatsächlich niemand etwas weiß. Oder aber: Jemand hat so viel Angst davor, mit der Wahrheit herauszurücken, dass ihm sein Leben lieber ist als die Aussicht auf eine stattliche Belohnung.“

Rose stand auf, blickte sich fragend um. „Ich müsste mich einen Moment frisch machen. Da drüben sind die Toiletten. Bitte entschuldigen Sie mich. In zwei Minuten bin ich zurück.“ Die Frau ist nicht dumm, dachte Mark. Natürlich will sie uns nur eine kurze, ungestörte Gesprächspause verschaffen.

Kaum war Rose außer Hörweite, schoss es aus Rebecca heraus. Ihre Worte überschlugen sich förmlich, ihre Augen waren weit aufgerissen, sie redete sich regelrecht in Rage. „Ein vermisster Biker! Eine Ermittlung auf der Route 66! Undercover! Mark, der Fall ist wie gemacht für uns. Wir fahren da runter, setzen uns auf die Fährte von dem Jungen. Wir stellen unauffällig Fragen, hören uns um. Eine absolut sichere Sache. Wir müssen diesen Auftrag unbedingt annehmen!“

Mark wusste in diesem Moment: Er würde Rebecca niemals umstimmen können. Sie würden den Auftrag natürlich annehmen, keine Frage. Doch im Geiste zählte er die Unbekannten in dieser Gleichung zusammen: Ein Vermisster, den Polizei und FBI vergeblich gesucht hatten. Eine unwirkliche Gegend, nahezu menschenleer. Orte, in denen die Bevölkerung in Armut lebte und oft auch in Angst vor der Polizei. Eine Belohnung, die niemand haben wollte …
Nein, das war überhaupt keine absolut sichere Sache. Und als er Rebecca zustimmend zunickte, ahnte er bereits, dass er diese Entscheidung noch bitter bereuen würde.

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